«Kann nur angenehm überraschen» - Presseecho nach Bidens Wahlsieg

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«Kann nur angenehm überraschen» - Presseecho nach Bidens Wahlsieg

«Kann nur angenehm überraschen» - Presseecho nach Bidens Wahlsieg

Der neu gewählte US-Präsident heißt Joe Biden. In Europa blickt die Presse auf seine Herausforderungen, warnt vor populistischen Nachahmern Trumps und ist gespannt auf die europäisch-amerikanischen Beziehungen in den kommenden Jahren.

Donald Trump ist abgewählt - und die europäische Presse reagiert überwiegend positiv. Im Mittelpunkt steht häufig die Herausforderung, die Joe Biden jetzt bevorsteht: das gespaltene Land zu einen. Vereinzelt wird vor populistischen Nachahmern Trumps gewarnt. In Russland erwartet eine Zeitung keinen Neustart der Beziehungen mit den USA. In Polen geht eine Zeitung davon aus, dass die Zusammenarbeit zunächst nicht einfach werden könnte.

«WASHINGTON POST» (USA)

«Mit einer Rekordwahlbeteiligung haben es die Wähler in der vergangenen Woche geschafft, beide Parteien zu enttäuschen. Die Republikaner verloren das Weiße Haus nach nur einer Amtsperiode, aber die Demokraten haben im Repräsentantenhaus Boden eingebüßt und werden im Senat in der Minderheit sein oder sich an die denkbar knappste Mehrheit klammern. Das Ergebnis ist eine gespaltene Regierung, die zu zwei Jahren Blockade und Frustration führen könnte.»

«WALL STREET JOURNAL» (USA)

«Die Gefahr für Mr. Biden ist, dass er die wichtigste Mission seines Wahlkampfes an dem Tag erreicht haben wird, an dem er seinen Amtseid ablegt: Donald Trump seines Amtes zu entheben. Er trifft den richtigen Ton, während er nun damit beginnt, eine Regierung zu bilden. Aber das größte Hindernis für die Wiederherstellung von mehr politischer Ruhe und Höflichkeit werden nicht die Post-Trump-Republikaner darstellen. Es wird von der Linken seiner eigenen Partei kommen.»

«ISWESTIJA» (Russland)

«Mit der Übernahme der US-Administration durch Joe Biden ist in den russisch-amerikanischen Beziehungen kein Neustart zu erwarten. Die Experten gehen davon aus, dass mit dem Wechsel des Chefs im Weißen Haus im Verhältnis zwischen Moskau und Washington zwar ein pragmatischer Ansatz zurückkehren kann und eine Zusammenarbeit bei traditionellen Problemen – zum Beispiel im Bereich der Rüstungskontrolle. Gleichwohl sind die Verbindungen zwischen beiden Ländern in einem solch traurigen Zustand, dass es keinen Sinn hat, irgendeine Verbesserung zu erwarten. Solange aus Washington nicht das klare Signal für einen Wunsch nach einem Neustart in den Beziehungen kommt, sollte niemand auf eine Normalisierung hoffen.»

«RZECZPOSPOLITA» (Polen)

«Der Sieg von Joe Biden könnte für (Polens nationalkonservative Regierungspartei) PiS einen Reset bedeuten - in der Außen- genauso wie in der Innenpolitik. Präsident Andrzej Duda, der in seinem Wahlkampf warnte, dass die LGBT-Ideologie schlimmer sei als der Bolschewismus, wird keinen leichten Anfang seiner Zusammenarbeit mit Biden haben. Biden hat in seinem Wahlkampf auch gesagt, dass er im Verhältnis zu Polen auf Werte setzen wird - aber sicherlich auf andere als jene, die die PiS hochhält.»

«INDEPENDENT» (England)

«Im Rahmen der Gewaltenteilung schlägt der Präsident vor, aber der Kongress entscheidet. In diesem Sinne wird Joe Biden sehr eingeschränkt sein, denn er wird sich nach aller Wahrscheinlichkeit nicht nur mit einem republikanischen Senat auseinandersetzen müssen, sondern auch damit, dass die Demokraten im Repräsentantenhaus an Boden verloren haben und sich zudem bewusst sein werden, dass ihnen bei den Zwischenwahlen ein republikanischer Aufschwung bevorstehen könnte. Allerdings ist Joe Biden tatsächlich hervorragend qualifiziert, um politische Vorhaben durch einen gespaltenen Kongress zu bringen.»

«DAGBLADET» (Norwegen)

«Ein Glasdach ist zerschlagen. (Die gewählte Vizepräsidentin Kamala) Harris kann auch das größte von allen zerschlagen - und Präsidentin werden. Denn jedes kleine Mädchen, das heute Nacht zuschaue, sehe, dass dies ein Land der Möglichkeiten sei, sagte sie in ihrer Ansprache. Endlich ist die Hoffnung zurück in der amerikanischen Politik.»

«SME» (Slowakei)

«Trump war nicht der Erfinder dieses populistischen Politikstils, er war nur derjenige, der ihn am besten beherrschte und damit bis ins Weiße Haus kam. Er hat möglichen Nachahmern das Vermächtnis hinterlassen, dass das mit genügend Ausdauer und Spalten der Gesellschaft gelingen kann. Dass es möglich ist, auch ohne moralische Werte oder Ideen Präsident zu sein.»

«EL PAÍS» (Spanien)

«Nachdem (mit US-Präsident Donald Trump) der wichtigste Statthalter des Populismus gefallen ist, kommt nun sein kleiner Komplize Boris Johnson an die Reihe. Allerdings wird seine politische Ruhigstellung auf andere Weise und zu einer anderen Zeit erfolgen, weil ihm keine Wahl bevorsteht. Aber die amerikanische Präsidentschaftswahl hat die Schwächen der nationalpopulistischen Positionen offengelegt.

«LE FIGARO» (Frankreich)

«Joe Biden ist sich bewusst, dass er sein tief gespaltenes Land wieder versöhnen muss (...) und spricht darüber, die "Seele Amerikas" wiederherzustellen. Er weiß jedoch auch, dass er für seine Anhänger einen radikalen Wandel herbeiführen muss. (…) Von nun an steht der gewählte Präsident (Joe Biden) vor einem Dilemma: Wird er ein Versöhner oder ein Reformer? Sehr wahrscheinlich wird er sich schnell entscheiden müssen.»

«NEUE ZÜRCHER ZEITUNG» (Schweiz)

«Die Trümmerhaufen zu beseitigen, wird viele Jahre in Anspruch nehmen, wenn es denn überhaupt gelingt. (Der gewählte demokratische Präsident Joe) Biden hat akute Krisen zu bewältigen und muss gleichzeitig die Behebung des Schadens angehen, den Trump dem Ansehen der USA und ihrer Institutionen zugefügt hat. Sein Fokus wird zunächst ganz auf dem Inneren liegen. Trotzdem ist diese Wahl ein Signal über die amerikanischen Grenzen hinaus. Es stärkt die liberale Demokratie, wenn das geopolitisch und wirtschaftlich mächtigste Land mit seiner großen Strahlkraft nicht länger von einem autoritären Demagogen regiert wird.»

«DENNIK N» (Slowakei)

«70 Millionen Menschen haben nichts gegen einen Politiker (Donald Trump) mit offen undemokratischer Neigung und fragwürdiger Moral. Diese Wähler werden im Falle eines Versagens von Biden in vier Jahren umso zorniger und womöglich noch zahlreicher zurückkehren. Wenn sich die Republikaner bis dahin nicht von Trump ablösen oder wenn sie an seiner Stelle womöglich einen noch Schlimmeren wählen, kann uns im Jahr 2024 ein schwerer Zusammenstoß erwarten.»

«DE STANDAARD» (Belgien)

«Fundamentale Probleme der amerikanischen Gesellschaft - Ungleichheit, Rassismus, geringe soziale Sicherheit - lassen sich nicht im Handumdrehen lösen. Joe Biden ist sich dessen bewusst. Er unterschätzt seine Aufgabe nicht. Und sein Vorhaben, alles zu tun, um das Land in eine gute Richtung zu steuern, ist herzergreifend. Wenn jemand über die erforderlichen Qualitäten verfügt, Amerika wieder zu einen, dann ist das wohl Joe Biden.»

«LIDOVE NOVINY» (Tschechien)

«Viele internationale Politiker werden mit Biden lieber verhandeln wollen. Doch vor allem sind mit seiner Persönlichkeit keine enormen Erwartungen verknüpft. Ex-Präsident Barack Obama hatte dafür büßen müssen. Viele sahen in ihm so etwas wie einen Erlöser - umso größer war anschließend die Enttäuschung. Besonders für Deutsche und Franzosen war diese Erfahrung sehr schmerzhaft. Biden indes kann als Präsident eigentlich nur angenehm überraschen.»

von: 
Claus Harders